Regensburg, Bayern
In Regensburg ist im Sommer 2021 etwas Erstaunliches passiert: Plötzlich ging eine neue Lokalzeitung an den Start. Anders als an vielen Orten in Deutschland gab es nicht weniger, sondern mehr Medienvielfalt. Mitunter setzt aber ein ganz anderes Medium die Themen in der Stadt – ein kleines, durch investigative Recherchen bundesweit bekannt gewordenes Online-Magazin.
Von Thomas Schnedler, Netzwerk Recherche.
Zu einer Stadtbesichtigung in Regensburg gehört nicht nur der Dom, sondern auch die Steinerne Brücke. Das wuchtige Bauwerk über der Donau ist die älteste erhaltene Brücke in Deutschland, ein Wahrzeichen der Stadt und touristisches Highlight. Zahlreiche Cafés empfangen die Gäste, die von der Altstadt kommend die 15 Brückenbögen überquert haben. Anfang September 2023 sorgt eines der Cafés für Schlagzeilen in der Stadt. Dem auch bei Einheimischen beliebten Café La Strada droht nach vielen Jahren das Aus, weil der Pachtvertrag nicht verlängert werden soll.
Der Verpächter und Hausherr ist eine traditionsreiche Institution, fast so alt wie die Steinerne Brücke selbst. Es handelt sich um das St. Katharinenspital, das Altenpflege ebenso zu seinen Aufgaben zählt wie den Betrieb einer Brauerei. Allerdings verkauft sich das Spital-Bier nicht mehr so gut wie früher. Soll der neue Pächter des Lokals nun etwa Bier ausschenken und so den Umsatz der Spital-Brauerei ankurbeln? Die Aufregung in Regensburg ist groß. 30 Menschen aus der Regensburger Gastronomie starten sogar eine Online-Petition zum Erhalt des Cafés und sammeln mehr als 2.000 Unterschriften.
Im Journalismus sind das Zutaten für eine richtig gute Geschichte: die kleine Pächterin gegen das mächtige Spital, Dolce Vita gegen bayerische Tradition, Kaffee gegen Bier. Ausgegraben wurde diese Geschichte nicht etwa von einer der beiden Lokalzeitungen vor Ort. Die erste Veröffentlichung erscheint bei Regensburg Digital, einem kleinen lokaljournalistischen Online-Medium. Die Tageszeitungen steigen erst ein paar Tage später in die Berichterstattung zum Gastro-Streit ein.
Der Konkurrenz eine Nasenlänge voraus, ein Thema mit Gesprächswert gesetzt – das freut Stefan Aigner. Der Journalist hat Regensburg Digital im Jahr 2008 als Lokal-Blog gestartet. Er ist ein investigativer Journalist alter Schule, der sich mit seinen Recherchen nicht nur in Regensburg einen Namen gemacht hat. Seine Heimat bot genug Stoff für große Geschichten, beim Missbrauchsskandal der Regensburger Domspatzen ebenso wie bei der Korruptionsaffäre um einen früheren Oberbürgermeister.
Aigners Berichterstattung wurde bundesweit wahrgenommen, als die Branche vor rund 15 Jahren große Hoffnungen auf lokale und hyperlokale Blogger setzte. „Ich weiß noch, als ich angefangen hatte, da bin ich auf den Podien herumgereicht worden, zur Zukunft des Lokaljournalismus“, erzählt Aigner. Sein Motto damals: „Unabhängig, mutig, unterfinanziert“. An der prekären Lage hat sich bis heute nichts geändert. Aigner blickt deshalb etwas ernüchtert auf die Erfolgschancen neuer Medienprojekte im Lokalen: „Ich frage mich ja: Wer schafft es denn überhaupt?“
Das ist eine sehr gute Frage. Wer schafft es denn überhaupt? In Regensburg lässt sich nicht nur die Entwicklung eines kleinen Digitalmediums studieren, sondern auch eine ganz außergewöhnliche verlegerische Initiative. Der bayerische Verleger Martin Balle gründete im August 2021 die Regensburger Zeitung, ein ganz neues Blatt.
Was war passiert? Die Mittelbayerische Zeitung, der bisherige Platzhirsch in Regensburg, war von den Gründerenkeln verkauft worden. Neuer Eigentümer wurde die Mediengruppe Bayern aus Passau, die auf Expansionskurs war. Martin Balle, der Verleger der Straubinger Mediengruppe Attenkofer, die das Straubinger Tagblatt und die Münchner Abendzeitung herausgibt, wollte der Konkurrenz nicht das Feld überlassen. Er wolle „ebenbürtig bleiben“, sagte er in einem Interview. Innerhalb von wenigen Tagen brachte er die neue Zeitung auf den Markt.
„Die Chance, einen eigenen Titel aufzubauen, die kriegt man nur sehr selten.“
SIMON KUNERT – Mediengruppe Attenkofer
Den Spurt bis zur Ausgabe Nr. 1 leitete der Journalist Simon Kunert. Bei einem Treffen in Landshut, wo er heute als Redaktionsleiter der Landshuter Zeitung arbeitet, erzählt er von der Aufbruchstimmung, die in diesen Tagen in der Redaktion herrschte, vom Spaß am Erfinden einer neuen Tageszeitung. „Die Chance, einen eigenen Titel aufzubauen, die kriegt man nur sehr selten. In einer prosperierenden Großstadt mit einem Team, das gut funktioniert und auch Lust hat.“
Er musste nicht ganz bei Null anfangen, denn der Verlag hatte in Regensburg bereits eine Mini-Redaktion, die für die im Landkreis erscheinende Donau-Post berichtete. Ruckzuck wurde ein größeres Redaktionsteam aufgebaut, ein Netz von freien Mitarbeiter:innen gespannt, ein Konzept entworfen. „Die erste Seite sollte eine gute Lesegeschichte sein. Auf Seite 3 wollte ich immer ein stabiles und starkes politisches Thema haben”, berichtet Kunert. Dazu kamen eine Glosse auf der zweiten Seite, außerdem Schwerpunkte bei Kultur und Heimatsport.
Ganz einfach war der Start für die Zeitung dann nicht. Handicap Nr. 1: Für den Newcomer auf dem lokalen Zeitungsmarkt war es zu teuer, ein eigenes Netz aus Zusteller:innen aufzubauen. Das Blatt kam daher mit der Post in den Briefkasten oder als E-Paper aufs Smartphone und Tablet. Das sei ein Manko, räumt Kunert ein: „Viele Leute wollen die Zeitung halt nicht mit der Post um 14 Uhr bekommen oder am Kiosk holen. Die wollen sie um 7 Uhr morgens im Briefkasten haben.“ Das sei allerdings immer schwerer finanzierbar, und an einigen Stellen kaum leistbar.
Handicap Nr. 2: Wie kann man die neue Zeitung in der Stadt bekannt machen? Die Redakteur:innen und Anzeigenkräfte packten einfach selbst an, gingen morgens in die Cafés und verteilten das Blatt, erzählt Kunert. Eine groß angelegte Werbekampagne gab es nicht. „Also, wenn ich eine Sache verändern würde im Nachhinein, dann wäre es das Marketing. Das war schwierig, weil größere Verlage da personell deutlich besser aufgestellt sind“, resümiert Kunert.
Auch überregional hätte er sich mehr Aufmerksamkeit für die Initiative der Mediengruppe Attenkofer gewünscht. „Ich war überrascht, dass relativ wenige Branchenmagazine über den Start der Regensburger Zeitung berichtet haben. Ich vermute, das war ein Projekt, das man belächelt hat.“ Immerhin: Die Wissenschaft registrierte sehr genau, dass da etwas Außergewöhnliches passierte in Regensburg: „Eine solche Expansion mit einem neuen Lokalteil ist im deutschen Zeitungsmarkt extrem selten; Neugründungen von Zeitungen sind inzwischen offenbar unmöglich“, kommentierte der Medienforscher Horst Röper den Fall an der Donau.
Heute arbeiten fünf Redakteur:innen für die Regensburger Zeitung. Täglich sind fünf bis sechs Lokalseiten zu füllen, erklärt Barbara Eisenhut, die stellvertretende Redaktionsleiterin, bei einem Besuch der Redaktion im Herzen von Regensburg. „Für die Größe, die wir jetzt haben, sind wir gut besetzt. Aber natürlich hätte ich gerne mehr Personal, denn in einer Stadt von unserer Größe ist es manchmal schwierig, alles abzudecken“, sagt sie. Das gehe aber auch größeren Verlagen so.
Barbara Eisenhut war schon beim Start des Blattes im Sommer 2021 dabei. „Es ist schon eine besondere Herausforderung, wenn man so als Underdog beginnt“, erzählt sie. Mit den Hürden von damals hat sie immer noch zu tun – keine Zustellung der Zeitung zum Frühstück, begrenzte Ressourcen. Sie wirkt trotzdem optimistisch: „Es ist auf jeden Fall ein Markt da für die Regensburger Zeitung, das kann man sagen. Die Menschen schätzen es sehr, dass guter Journalismus da ist“, sagt sie.
Es ist eine wohlhabende Stadt, fast 180.000 Menschen leben dort. Doch sie zu erreichen, ist nach wie vor nicht so leicht. Die verbreitete Auflage liegt insgesamt bei rund 4.700 Exemplaren (IVW, 3. Quartal 2024). Diese Zahl ist allerdings nicht sehr aussagekräftig, sie beinhaltet sowohl die Regensburger Zeitung als auch die im Landkreis Regensburg erscheinende Donau-Post.
„Ich halte es für notwendig, dass man mutig ist.“
Stefan Aigner – Regensburg Digital
Bei Regensburg Digital sind die Zahlen ebenfalls überschaubar. Rund 300 Menschen sind es monatlich, die das Lokalmedium mit einer Spende oder als Mitglied des Fördervereins unterstützen. Sein Name ist Programm: „Verein zur Förderung der Meinungs- und Informationsvielfalt“. Gemeinnützig ist der Verein allerdings nicht, so dass die Spender:innen keine Spendenbescheinigung bekommen können. Es ist einer jener Fälle, die für eine Reform der Abgabenordnung sprechen, wie sie Netzwerk Recherche und das Forum Gemeinnütziger Journalismus schon lange fordern. Ein Versuch, die Gemeinnützigkeit zu erlangen, sei im Gründungsprozess gescheitert, erzählt Aigner: „Damals haben wir es einmal beim Finanzamt probiert. Und dann hat die Bezirksfinanzdirektion in Nürnberg gesagt: Journalismus ist nicht gemeinnützig.“
Auf die mit der Gemeinnützigkeit verbundenen Steuervorteile muss Regensburg Digital daher verzichten. Die Einnahmen sind überschaubar: „Wir haben einen Gesamtumsatz, der ist niedriger als das, was ein Redakteur mit meiner Ausbildung bei einer Tageszeitung bekommt“, sagt Aigner. Er habe sich nach und nach damit arrangiert, existenzbedrohend sei es nicht mehr. Es hilft, dass er dank einer Kooperation mit dem Münchner Merkur seit einiger Zeit ein zweites wirtschaftliches Standbein hat. Der Verlag erwirbt die Zweitverwertungsrechte für Aigners Artikel und publiziert sie auf den Regionalseiten von merkur.de. Auch Werbeanzeigen auf der eigenen Webseite bringen etwas Geld.
Größere Beträge erhält Regensburg Digital von den Unterstützer:innen, wenn mal wieder ein Prozess geführt werden muss. Die Diözese Regensburg, der Möbelhändler XXXLutz und andere zogen vor Gericht, weil ihnen die kritische Berichterstattung von Stefan Aigners Blog nicht passte. Mundtot macht ihn das nicht: „Ich halte es für notwendig, dass man mutig ist. Das gehört halt dazu. Und ich habe außerdem wirklich einen ganz hervorragenden Rechtsanwalt“, sagt Aigner.
Im Vergleich mit diesen Fällen war der Bericht über das Café La Strada an der Steinernen Brücke redaktioneller Alltag für Regensburg Digital. Ein wichtiges Gesprächsthema in der Stadt war es gleichwohl. Für das Café gab es nämlich kein Happy End. Die Petition scheiterte, der Betrieb musste zum Jahresende 2023 schließen. Der Vermieter, die St. Katharinenspitalstiftung, begründete dies in einer ausführlichen Erwiderung mit unüberbrückbaren professionellen Gegensätzen.
In den Räumen des Cafés hat inzwischen eine Bar eröffnet. „Sekt, Bitter, Bergamotte-Liköre, Aperitifweine: Im Regal über der Bar reihen sich bereits die dazu nötigen Getränke in schönen Flaschen“, schwärmte die Mittelbayerische Zeitung zur Eröffnung im Juni 2024.
Spital-Bier gibt es auch.
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