Konstanz, Bodensee
In Konstanz ist 2022 ein gemeinnütziges Start-up – das karla Magazin – an den Start gegangen. Das ambitionierte Medienprojekt wollte mit neuen Formen des Lokaljournalismus experimentieren, Lücken in der lokalen Berichterstattung schließen und sich einen festen Platz neben dem Südkurier erobern. Das hat – bislang – nicht geklappt. Trotz aller Schwierigkeiten inspiriert das Projekt andere Gründer:innen im gemeinnützigen Journalismus.
Von Thomas Schnedler, Netzwerk Recherche.
Über das karla Magazin in Konstanz ist in den vergangenen zwei Jahren eine Menge geschrieben worden. Erst war es das bis dahin erfolgreichste Crowdfunding für ein Lokalmedium im Frühsommer 2022, mit dem die Gründer:innen des karla Magazins in der Branche Schlagzeilen machten. Dann war es der Start der gemeinnützigen Redaktion im November 2022, der aufmerksam beobachtet wurde. Rund ein Jahr später kam das überraschende Aus für das Medienprojekt, zu dem sehr gute Analysen erschienen sind. Wo also fängt man an, wenn man den lokalen Medienmarkt in Konstanz beschreiben möchte, ohne Altbekanntes zu wiederholen?
Dieser Text beginnt mit einer Zeitreise in die alte Bundesrepublik, in die 1960er-Jahre. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien damals ein Porträt des Südkuriers, der Lokalzeitung in Konstanz. „Wohl kaum eine Zeitung dieses Landes residiert in einem älteren Gebäude als der Südkurier“, schrieb die FAZ. „Der Ursprung des einstigen Spitals zum Heiligen Geist reicht bis auf das Jahr 1000 zurück.“ Die Redaktion träfe sich für ihre Konferenzen in einem mit Fresken verzierten Raum, in dem einst die Messe zelebriert wurde. Das Gebäude lag im Herzen der Konstanzer Altstadt, nur wenige Schritte vom Bodensee entfernt.
Für eine Lokalredaktion ist ein solcher Standort Gold wert, nicht nur wegen der repräsentativen Räume oder der nahe gelegenen Uferpromenade. Die Leserinnen und Leser liefen tagtäglich am großen Südkurier-Schriftzug vorbei, der am Gebäude angebracht war, die Wege zur Redaktion waren kurz. Wer heute die Lokalredaktion des Südkuriers besuchen möchte, muss erst einmal aufs Fahrrad oder in den Bus steigen und etliche Haltestellen bis in ein Industriegebiet fahren. Dort, neben der Druckerei des Verlags, hat die Lokalredaktion seit einigen Jahren ihren Sitz in einem Zweckbau. Am früheren Standort in der Altstadt ist inzwischen ein Café eingezogen.
Der Meetingraum der Redaktion wird immer noch „Kapelle“ genannt, erzählt Matthias Kiechle aus der Chefredaktion des Südkuriers bei einem Besuch im Januar 2023. Der massive Tisch in der Mitte des Raumes stand schon am alten Standort im ehemaligen Spital, er hat den Umzug ins Gewerbegebiet mitgemacht. Wie die Redaktionskonferenzen an diesem Tisch in den 1960er-Jahren aussahen, hat der Südkurier in einem Jubiläumsrückblick dokumentiert: Es ist eine Runde, in der fast ausschließlich ernst blickende Männer sitzen, ein Aschenbecher steht auf dem Tisch.
Bei unserem Gespräch an dem historischen Besprechungstisch gibt es Kaffee, keine Zigaretten. Matthias Kiechle ist als Chief Digital Officer für die digitale Transformation des Verlags zuständig (heute arbeitet er in anderer Rolle für das Medienhaus, er leitet als Geschäftsführer die Vermarktungstochter SK One). Im Südkurier nennt man diesen Prozess „SHIFT“. Die Grundsätze hat der Verlag in einer Art Manifest notiert: „Transformation ist keine Revolution, kein gewaltsamer Umsturz. Es ist ein anstrengender Weg, aber ein notwendiger. Denn die Digitalisierung transformiert alles um uns herum. Wenn wir die einzigen sind, die die Alten bleiben, sehen wir bald sehr alt aus.“
Weil sie im Südkurier nicht alt aussehen möchten, analysieren sie genau, was bei den Digital-Kunden gut ankommt. Daraus wird ein „Articelscore“ ermittelt. In einer Erfolgsauswertung der Lokalredaktion Konstanz, über die Kiechle im Fachmagazin Medium berichtete, schnitten die Themengebiete Blaulicht und Wetter überdurchschnittlich gut ab, unterdurchschnittlich bewertet wurden die Themen Politik, Schule und Familie. Droht da nicht ein von Klickzahlen getriebener Online-Journalismus, der gesellschaftlich Relevantes vernachlässigt?
Kiechle hält dagegen und berichtet von Recherchen des Südkuriers, die richtig etwas verändert hätten. Zum Beispiel im Jahr 2019, als die Zeitung über den Einsatz des umstrittenen Unkrautvernichters Glyphosat in den Weinbergen berichtete. Die Berichterstattung lohne sich auch wirtschaftlich, betont er: „Diese Recherchen, die wir da machen, das sind zum großen Teil die Geschichten, mit denen wir auch am meisten Abos machen.“ Die gedruckte Zeitung sei ein Panoptikum des lokalen Lebens. „Da ist die Recherche genauso drin wie der Gottesdienst, der Musikverein und die Landfrauen. Das alles einfach online zu stellen, das funktioniert eben nicht. Dafür bezahlen die Kunden nicht.“
Den Standort der Redaktion im Industriegebiet findet Matthias Kiechle nicht perfekt. Er betont aber auch: „Unsere Aufgabe ist ja, überall zu sein. Und da ist ein Standort in der Innenstadt so gut wie einer in einem Industriegebiet. Weil auch hier leben Menschen, auch hier pulsiert das Leben.“ In der Nähe des Druck- und Verlagszentrums liege beispielsweise Wollmatingen, ein Stadtteil von Konstanz. „Da gibt es Hochhäuser, da gibt es soziale Brennpunkte. Und da sind wir jetzt viel näher dran.”
Was bedeutet es, ein sozialer Brennpunkt in einer so wohlhabenden Stadt wie Konstanz zu sein? Wie leben die Menschen in Wollmatingen? Dass die räumliche Nähe der Zeitungsredaktion nicht unbedingt Empathie bedeutet, zeigt ein Artikel, der 2018 im Südkurier erschien. Unter der Überschrift „Parallelgesellschaft in Wollmatingen: Das hässliche Gesicht der Stadt Konstanz” schrieb der Autor über jene Menschen in Wollmatingen, die er am Rand der Gesellschaft verortete, und über „Ghettoisierung” in einer reichen Stadt. Es sei eine Realität, „die geprägt ist von Alkoholismus, brutaler Gewalt und Drogenkonsum.” Man kenne sich, wenn überhaupt, nur mit Spitznamen.
Noch heute spricht man in dem Stadtteil über den Artikel, erzählt Sophie Tichonenko, die beim karla Magazin die Bürger:innen-Redaktion leitet. Im September und Oktober 2024 war sie mit der Pop-Up-Redaktion im so genannten Berchengebiet in Wollmatingen, wo die besagten Hochhäuser stehen. „Der Artikel hat sich bei den Menschen eingebrannt”, sagt Sophie Tichonenko. Sie verfolgt mit ihrer Arbeit in Wollmatingen einen anderen Ansatz: Sie schreibt nicht über die Menschen, sondern arbeitet mit ihnen zusammen an Berichten. „Wir sind bewusst in unterrepäsentierte Stadtteile von Konstanz gegangen”, erklärt sie. Regelmäßig bot sie eine offene Sprechstunde im Quartierszentrum an. Nun erscheinen nach und nach die Artikel der Bürger:innen. Ein Autor schreibe beispielsweise über den beschwerlichen Nahverkehr und fehlende Direktverbindungen.
Dass es karla und die Bürger:innen-Redaktionen überhaupt noch gibt, ist einer Förderung durch die Deutsche Postcode-Lotterie zu verdanken. Sie unterstützt die Arbeit des Medienprojekts, auch wenn nun alles anders ist als noch 2023. Das Team von karla 1.0 ist nach dem Scheitern des ersten Konzepts fast vollständig ausgeschieden, die Geschäftsführung der gemeinnützigen Karla GmbH hat 2024 Pauline Tillmann übernommen, eine erfahrene Gründerin und Journalistin. Michael Lünstroth, Mitgründer des Projektes, schreibt nun einen familienpolitischen Newsletter für karla, „Familie mit k”.
Anna Kulp und Nik Volz, die früher in der Geschäftsführung gearbeitet haben, sind nicht mehr operativ tätig. Beide hatten wir im Januar 2023 ebenfalls zum Interview getroffen. Es war ein Gespräch voller Optimismus und Selbstvertrauen. Es ging um den neuen Sitz der karla Redaktion – ein Co-Working-Café mitten in der Altstadt -, um die seit dem Start des Magazins im November 2022 gewonnenen Abos, um die Pläne für die Etablierung in der Stadtgesellschaft. Was den beiden besonders wichtig war: Die neue Redaktion sollte gut erreichbar – „erlebbar” – sein. Nik Volz sagte damals: „Wenn man man den Menschen auf Augenhöhe begegnen möchte, dann muss man sie auch immer wieder einladen, und sei es in die eigene Redaktion, sei es um einen Kaffee zu trinken, sei es abends zu Veranstaltungen, die wir selber organisieren.”
Was beim nochmaligen Hören des Gesprächs auffällt: Es waren gleich drei Herausforderungen, vor denen das Team damals stand. Erstens ging es darum, ein eigenes lokaljournalistisches Profil zu entwickeln, die Schlagworte aus dem Pitch-Deck mit Leben zu füllen, ambitionierten Lokaljournalismus „konstruktiv” und in „multiperspektivischen Dossiers” zu machen. Zweitens musste eine solide Finanzierung aufgebaut werden, die sich aus Abonnements ebenso speisen sollte wie aus Stiftungsförderungen. Und drittens kam mit der Gemeinnützigkeit eine zivilgesellschaftliche Aufgabe hinzu: Teilhabe und Partizipation der Menschen in Konstanz mussten organisiert und nutzbar gemacht werden, eine treue Community entstehen. Das sind drei Herkulesaufgaben, für die es unbedingt mehr Zeit und Geld gebraucht hätte.
Nach dem karla-Aus erschienen hier und da Berichte, die kritisierten, es sei blauäugig gewesen, dass karla von Anfang an faire Gehälter zahlen wollte. „Das ist aller Ehren wert, jederzeit zu unterstützen und aus voller Gewerkschaftsbrust zu intonieren. Aber womit bezahlen und zu welchem Preis?”, fragte zum Beispiel Josef-Otto Freudenreich von der gemeinnützigen Kontext:Wochenzeitung. Dieser Einwand irritiert. Denn es liegt ja nahe, dass niemand im kleinen karla-Start-up Dienst nach Vorschrift machte, ein erheblicher Teil der Arbeit dürfte Selbstausbeutung gewesen sein. Sollten Neugründungen im gemeinnützigen Lokaljournalismus nur unter extrem prekären Bedingungen möglich sein, dann wäre dies eine deprimierende Lehre aus dem Versuch am Bodensee.
Was für die Analyse womöglich eher hilft ist ein Blick auf die Zielgruppen der Abo-Angebote von karla und Südkurier. Denn die waren sich doch recht ähnlich, wie die Interviews im Januar 2023 zeigten: digital-affin, gebildet, wohlhabend genug für ein weiteres Abo neben Netflix und Amazon. „Mit dem digitalen Produkt gibt es sicherlich eine hohe Überschneidung”, bestätigte Anna Kulp im Gespräch im Januar 2023. „Aber karla ist ja mehr als – in Anführungszeichen – nur das Digitalmagazin. Wir sehen karla ganz klar auch als Medienbildungsprogramm und als partizipatives Element.”
Der Partizipationsgedanke lebt weiter, das Team von karla 2.0 stellt ihn nun in den Mittelpunkt. Ob es allerdings eine Zukunft für das Medienprojekt gibt, ist derzeit unklar. Wieder geht es um Fördermittel und um die Unterstützung durch die Stadtgesellschaft. Im Oktober 2024 startete karla deshalb eine neue Mitgliederkampagne. Die Idee, gemeinnützigen Lokaljournalismus zu machen, ist keineswegs tot. In Lindau am Bodensee hat soeben das Crowdfunding für ein neues gemeinnütziges Lokal-Magazin begonnen. Es heißt – kein Scherz – Kolumna.
Die rasende Reporterin Karla Kolumna hätte gesagt: „Sensationell!“
Transparenzhinweis
Netzwerk Recherche kooperiert mit karla beim Projekt werkzeugkasten.media, bei dem das Wissen von Gründer:innen aus dem Journalismus gesammelt und in journalistischen Beiträgen auf einer kostenlosen Online-Plattform zusammengefasst wird.
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