Die Lokalzeitung zum Frühstück in der Hand halten? Damit war im Frühjahr 2023 in vielen Gemeinden rund um Greiz Schluss. Die Abonnent:innen der Ostthüringer Zeitung mussten auf das digitale Abo umsteigen, weil die Zustellung für den Verlag zu teuer geworden war. Wie sieht die Bilanz dieser „Zwangsdigitalisierung“ in Thüringen aus?

Von Thomas Schnedler, Netzwerk Recherche.

Der 18. April 2023 ist ein besonderer Tag für Langenwetzendorf, eine Gemeinde im thüringischen Landkreis Greiz. Die Ostthüringer Zeitung hat auf einem zentralen Platz Zelte aufgebaut, ein knallrotes Promo-Mobil lädt die Menschen zu Gesprächen ein. „Heute digital umsteigen“ steht auf dem Plakat. Genau darum geht es: Der Verlag hat angekündigt, ab Mai 2023 in elf Gemeinden rund um Greiz die gedruckte Tageszeitung nicht mehr zuzustellen. Rund 300 Abonnements sind betroffen. Die Zustellung in dem ländlichen Kreis im thüringischen Vogtland sei unwirtschaftlich, argumentieren die Manager. Die Kosten für Papier, Transport und Personal seien einfach zu hoch.

Die Aktion ist ein Experiment. Die betroffenen Leserinnen und Leser sind überwiegend im Seniorenalter, keine Digital Natives. Der Verlag - die Funke Mediengruppe - hat den Schritt deshalb mehrere Monate lang vorbereitet und ein ganzes Paket mit Maßnahmen geschnürt, um den Wandel von Print- zu Digital-Abos zu begleiten. Dazu zählen zwei Medienpädagoginnen, die den Menschen mit Engelsgeduld erklären, wie die App funktioniert oder wie das Tablet zu bedienen ist. Der Verlag verteilt Gutscheine für einen Volkshochschulkurs, einen Führerschein für Smartphone und Tablet können Interessierte dort absolvieren. Die Hardware gibt es auch: Wer ein Abo für zwei Jahre abschließt, bekommt ein Samsung-Tablet kostenlos dazu. 29,99 Euro soll das im Monat kosten, rund 15 Euro günstiger als das Print-Abo.

„Die Entrüstung war groß, ganz am Anfang.“

NILS Kawig – Ostthüringer Zeitung

Netzwerk Recherche ist vor Ort, um zu beobachten, wie die Menschen reagieren. Nils Kawig, Chefredakteur der Ostthüringer Zeitung, hatte vor der Veranstaltung erzählt, die Ankündigung des Verlags habe für Ärger in der Region gesorgt: „Die Entrüstung war groß, ganz am Anfang. Es trifft halt wieder mal den ländlichen Raum. Das Verständnis dafür ist natürlich nicht besonders ausgeprägt in diesen Dörfern.“

Die betroffenen Gemeinden tragen hübsche Namen, sie heißen Cossengrün, Silberloch, Pommeranz oder Erbengrün. Nils Kawig betont: „Wir machen hier etwas, was Lokaljournalismus erhalten soll und nicht, was Lokaljournalismus abschaffen soll.“ Aber ob sich der ganze Aufwand in den Dörfern auszahlen wird? Nils Kawig weiß es im März 2023 noch nicht. Auch das Scheitern sei mit einkalkuliert. „Wenn das gar nicht funktioniert, ist es eben auch nicht der richtige Weg. Dann müssen wir wieder neu nachdenken.”

In Langenwetzendorf informierte die Ostthüringer Zeitung über die Digital-Angebote, Medienpädagoginnen erklärten die Nutzung von Smartphones und Tablets (Foto: Schnedler).

Wut oder Entrüstung sind am Info-Stand in Langenwetzendorf an diesem kalten Tag im April nicht zu spüren. Die Menschen erzählen eher von der tiefen Verbundenheit mit der Heimatzeitung, die oft über Jahrzehnte gewachsen ist. Ein Besucher berichtet, er lese schon seit rund 50 Jahren die Zeitung, die damals noch Volkswacht hieß. Das war die Zeitung der SED-Bezirksleitung Gera, aus der dann nach der Wende und dem Einstieg der WAZ-Gruppe aus Essen in den ostdeutschen Zeitungsmarkt die Ostthüringer Zeitung hervorging.

Gottfried Herold, 85 Jahre alt, kommt sogar schon zum dritten Mal in die Beratung. Er ist ein Gentleman, den Medienpädagoginnen vom Erfurter Verein „Mit Medien“ hat er Pralinen mitgebracht. „Dann mit dem Finger von links nach rechts wischen, um alle Seiten anzusehen”, erklärt eine Pädagogin gerade. Herold hat sich eine Liste geschrieben: Tablet einschalten. App anklicken. Zeitung anklicken. Es folgen etliche weitere Punkte auf seiner Liste, eine schrittweise Annäherung an die „digitale Vorteilswelt“, wie es der Verlag in einem Flyer nennt.

In der Beratung erleben wir bei Gottfried Herold und anderen eine bewundernswerte Hartnäckigkeit, sich in die Welt der Apps und der neuen Gerätschaften reinzufuchsen. „Tablet wie Tablette“, das hat er sich gemerkt. Und mit diesem Kalauer schafft er es sogar in den SPIEGEL, der einen Reporter nach Langenwetzendorf geschickt hat. Die Ostthüringer Zeitung hat sich vorbereitet: Chefredakteur Nils Kawig ist den ganzen Tag vor Ort, der Vertriebsleiter der FUNKE Thüringen Verlag GmbH ebenso, auch der Konzernsprecher aus Essen ist mit seinen Mitarbeiter:innen gekommen.

Es ist ein zwiespältiges Modellprojekt: Auf der einen Seite bemüht sich der Verlag sichtlich, digitalen Lokaljournalismus auch für Menschen zugänglich zu machen, die an die Print-Zeitung gewöhnt sind. Auf der anderen Seite droht das Medienangebot in den Gemeinden rund um Greiz durch den Rückzug der gedruckten Zeitung noch dünner zu werden.

Einst wurden hier Zeitungen und Zeitschriften verkauft - geschlossener Kiosk in Greiz (Foto: Schnedler).

Der Landkreis Greiz ist der Wüstenradar-Studie zufolge ein Ein-Zeitungs-Kreis, die Ostthüringer Zeitung hat also keinen Wettbewerber vor Ort. Klar, es gibt den MDR mit einem Regionalstudio in Gera und private Rundfunksender. Im Alltag sind auch die Amtsblätter von Bedeutung. Der Bürgermeister von Langenwetzendorf informiert in seinem monatlichen Heft beispielsweise über Gottesdienstzeiten, Apothekenbereitschaften, amtliche Bekanntmachungen und das rege Vereinsleben.

Wenn Wichtiges oder Spektakuläres passiert, dann berichtet auch die Freie Presse aus Chemnitz. „Wir beschränken uns mit unseren Printausgaben auf das sächsische Vogtland“, betont allerdings Torsten Kleditzsch, Chefredakteur der Freien Presse. Das thüringische Greiz gehört nicht dazu. „Die dortigen Themen sind für uns immer dann interessant, wenn sie auch die Lebenswelt jenseits der Landesgrenze tangieren.“ Einen Ansturm auf seine Angebote habe es nach der Digitalisierungsoffensive der Nachbarzeitung nicht gegeben: „Mir ist nicht bekannt, dass wir es mit einem nennenswerten Anstieg an Anfragen aus dem Greizer Raum zu tun gehabt hätten“, sagt Kleditzsch.

Im Zentrum von Greiz hat die Lokalredaktion der Ostthüringer Zeitung ihren Sitz. Sechs Planstellen hat die Redaktion, sagt Nils Kawig. Drei bis fünf Seiten sind in der Regel zu füllen, mit Berichten aus Greiz, Zeulenroda-Triebes und Umgebung. Die Auflage ist im freien Fall. Innerhalb von zwei Jahren sank sie bei dieser Ausgabe um gut 22 Prozent. Im 3. Quartal 2024 lag die verkaufte Auflage (inkl. E-Paper) laut IVW bei 5.104 Exemplaren; zwei Jahre zuvor waren es noch 6.561 Exemplare gewesen.

Das ist zwar ein dramatischer Auflagenverlust, aber von einer Nachrichtenwüste ohne Lokaljournalismus kann hier gleichwohl noch nicht gesprochen werden. Das betonte auch die Thüringer Staatskanzlei in ihrer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage im Mai 2023: „Die Landesregierung betrachtet Gebiete, in denen Tageszeitungen nicht mehr in gedruckter Form an die einzelnen Haushalte geliefert werden, nicht als News Deserts. Denn auch in diesen Gebieten können Nachrichten aller Art über Hörfunk, Fernsehen und online empfangen werden.“

Das stimmt schon, diese Medienangebote gibt es. Aber ist es nicht zu simpel, den Menschen in Cossengrün oder Silberloch zu sagen: Ihr bekommt keine gedruckte Zeitung mehr? Dann hört halt Radio!

„Gefühl von Heimatverlust“

Leserin der Ostthüringer Zeitung

Bei einer Abendveranstaltung am 18. April 2023 bringt es eine Leserin der Ostthüringer Zeitung auf den Punkt. Nils Kawig hat zuvor mit vielen Zahlen erklärt, warum sich die Zustellung der Papierzeitung nicht mehr lohnt. Die Frau erzählt, die Menschen in den betroffenen Dörfern beklagten ein „Gefühl von Heimatverlust“. Landrätin Martina Schweinsburg, heute Abgeordnete im Thüringer Landtag, fasst die Stimmung der Menschen zusammen: „Jetzt nehmen sie uns das auch noch weg!“

Der Abend im Schlossberghotel Greiz veranschaulicht, wie es zu dieser Wahrnehmung von Verlusten kommen kann. Die Veranstaltung, von der Ostthüringer Zeitung organisiert, steht unter der Überschrift „Digitalisierung ländlicher Raum“. Bevor die landespolitische Prominenz über das Thema diskutiert, stellen verschiedene Unternehmen in Impulsvorträgen ihre Ideen und Digitalisierungskonzepte vor. Ein Mann von REWE präsentiert den Dorfladen ohne Personal, bei dem die Menschen in einer 24-Stunden-Einkaufsbox ihre Waren an der Self-Checkout-Kasse bezahlen. Die Sparkasse Gera-Greiz spricht über das Online-Banking, ein Gründer aus Erfurt erklärt die von ihm erfundene Online-Plattform Dorfleben, mit digitaler Pinnwand und Veranstaltungskalender.

Alles in allem ist es eine Welt mit vielen Apps und wenig Menschen, die an diesem Abend als Perspektive für den ländlichen Raum skizziert wird. Die Ostthüringer Zeitung warnt in der Nachberichterstattung in einem Kommentar, die Digitalisierung auf dem Land dürfe „nicht zu sozialer Kälte führen.“

Bedrohte Art: Lokaljournalismus. Screenshot aus der Sendung des ZDF Magazins Royale vom 20.09.2024.

Wie informieren sich jene, die keine Lust auf neue Apps haben? Sie können immer noch bedrucktes Papier durchblättern - die kostenlosen Anzeigenblätter, die in Thüringen erscheinen. Eine Besucherin am Info-Stand in Langenwetzendorf warnt Chefredakteur Nils Kawig ausdrücklich vor diesen Publikationen. Sie hat zur Veranschaulichung einen Stapel alter Anzeigenblätter mitgebracht, die „Bürgerzeit aktuell“ aus Schleiz, die bei ihr daheim in die Briefkästen gesteckt wird. Es ist eine jener Gratis-Zeitungen, denen DIE ZEIT später einen Artikel widmet: „Wie AfD-nahe Anzeigenblätter in Ostdeutschland den Regionalzeitungen Konkurrenz machen“.

Jan Böhmermann hielt im ZDF Magazin Royal im September 2024 ein Exemplar der „Bürgerzeit aktuell“ in die Kamera, als er eine Versorgungslücke mit Lokaljournalismus in Ostdeutschland diagnostizierte. Die Anzeigenblätter seien publizistische Lückenfüller - „wie Telegram, nur ausgedruckt“. Das war eine treffende Zusammenfassung, wie ein Blick in die „Bürgerzeit aktuell“ zeigt. Im Februar 2023 schimpfte beispielsweise ein Gastautor über das „Irrenhaus“ Deutschland, „dessen Bürger Parteien und Politiker wählen, die ihnen schaden, für Zeitungen und Fernsehprogramme bezahlen, die sie tagtäglich täuschen und manipulieren, und einen Behörden- und Justizapparat finanzieren, der sie schikaniert und entrechtet?“

Die Bürgerin in Langenwetzendorf warnte: Blätter wie die „Bürgerzeit aktuell“ werden nach wie vor gedruckt und verteilt, während sich die Ostthüringer Zeitung ins Digitale zurückzieht und mit diesem Schritt Menschen verliert, die zuvor Abonnent:innen waren. Das helfe der „blauen Welle“, wie sie es nennt. Gemeint ist der politische Erfolg der AfD in Thüringen.

Das sei „ein schwieriges Thema“, sagt Nils Kawig. „Viele AfD-nahe Anzeigenblätter in Ostthüringen werden zwar noch gedruckt, aber auch nicht mehr zugestellt. Sie liegen in Geschäften oder an Kiosken zur kostenlosen Mitnahme aus.“ Ob sich dieses Geschäftsmodell noch lange halten wird, könne er nicht einschätzen. Die „Bürgerzeit aktuell“ reagierte übrigens inzwischen mit einem Kommentar auf die Sendung von Jan Böhmermann. Das „Zwangsfinanzierte Deutsche Fernsehen, kurz ZDF“ gehe mit der „Nazikeule“ gegen das Blatt vor, klagte ein Kommentator auf Seite 1 der Oktober-Ausgabe.

Das Presse-Echo zur Aktion in Greiz war groß. (Foto: Schnedler)

Die Ostthüringer Zeitung ist keineswegs allein mit ihrer Aktion. Andere Zeitungen zogen nach: Die Madsack Mediengruppe hat Ende September 2023 den Prignitz-Kurier, die Lokalausgabe der Märkischen Allgemeinen Zeitung im Nordwesten Brandenburgs, zum letzten Mal auf Papier erscheinen lassen. 2.400 Print-Leser:innen waren von diesem Schritt betroffen. Etwas später wurde das „Zukunftsmodell“ auch auf die benachbarten Lokalausgaben in Kyritz und Wittstock ausgeweitet.

In der Trendumfrage 2024 des Bundesverbands Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV) sagten 80 Prozent der Befragten, das Ende der Zustellung in unwirtschaftlichen Bereichen sei eine relevante Maßnahme, um auf die steigenden Kosten zu reagieren. Ob sie die Zahlen aus Greiz schon kennen? Die Bilanz der Ostthüringer Zeitung ist nämlich ernüchternd: 25 Prozent der Betroffenen schlossen ein E-Paper-Abo ab. 28 Prozent beziehen die Zeitung nun über die Postzustellung - eine Option, die der Verlag erst einige Zeit nach der Veranstaltung in Langenwetzendorf anbot. Fast die Hälfte der betroffenen Abos - 47 Prozent - gingen dem Verlag verloren. Das ist ein herber Verlust.

Ein kompletter Fehlschlag war das Projekt aber nicht, betont Nils Kawig. „Der Aufwand hat sich gelohnt. Wir haben sehr viel gelernt über die Chancen und Risiken einer ‘Zwangsdigitalisierung’.“ Was neben der geringen Wandlungsquote auf der Minus-Seite der Bilanz steht: Es bleibt unklar, wie die technischen Kompetenzen der Betroffenen im ländlichen Raum gestärkt werden können. „Ich hatte im Vorfeld erwartet, dass unsere Schulungsangebote wichtig für die Akzeptanz der digitalen Wandlung sein würden”, sagt Nils Kawig. „Leider hat sich das nicht bewahrheitet. Es gab keine Veranstaltungen an der Volkshochschule Greiz, weil niemand unsere Gutscheine eingelöst hat.“

Auf der Plus-Seite steht zum einen der intensivere Austausch mit anderen Verlagen, der durch die Aktion in Schwung gekommen ist. Zum anderen hat die öffentliche Aufmerksamkeit für die Initiative in Thüringen auch die Menschen in den Fokus gerückt, die nicht auf ein digitales Abo oder die Postzustellung umgestiegen sind. Die Wissenschaftler Christopher Buschow und Markus Kaiser sehen hier nun großen Forschungsbedarf: „Sind diese Nutzer für den Journalismus verloren? Wie informieren sie sich nach der Umstellung?“

Weiterlesen:

  • Buschow, Christopher/Kaiser, Markus (2024): Die Transition von Print- zu Digitalabonnements. Bisherige Erfahrungen, Praxisimplikationen und Forschungsbedarf. In: MedienWirtschaft, Oktober 2024, 21(3): 12-17
  • Dudek, Philipp (2024): Abschied vom Papier. In: Kress Pro, Dossier Vertrieb: Wie Zeitungen Printabos in Digitalabos wandeln. Ausgabe 02/2024, S. 2-3
  • Jürgens, Johanna/Nejezchleba, Martin (2024): Einwurf von rechts. Wie AfD-nahe Anzeigenblätter in Ostdeutschland den Regionalzeitungen Konkurrenz machen. In: DIE ZEIT 7/2024 vom 08.02.2024, S. 21
  • Thüringer Staatskanzlei (2023): Antwort auf eine Kleine Anfrage des Abgeordneten Christian Tischner (CDU). Gefahr von „News Deserts“ in Thüringen. Drucksache 7/8035 vom 17.05.2023
  • Winter, Steffen (2023): Tablet wie Tablette. In: DER SPIEGEL 18/2023 vom 29.04.2023, Seite 70-71
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